ZEITUNGSMATINÉE ZUR 64. VÖZ-GENERALVERSAMMLUNG
30. Juni 2017

Medienmarken als Navigatoren der Zukunft

Bei der Zeitungsmatinée anlässlich der diesjährigen VÖZ-Generalversammlung am 29. Juni 2017 im VIG-Ringturm hielten Medienwissenschaftler Norbert Bolz, Matthew Kaminski („Politico“), Digitalstratege Oliver von Wersch und Stefan A. Jenzowsky (Siemens Convergence Creators) Impulsvorträge vor rund 100 interessierten Gästen aus der Medienbranche.
©Katharina Schiffl
VÖZ-Geschäftsführer Gerald Grünberger, Gastgeber Peter Höfinger, Vorstandsmitglied der Vienna Insurance Group, und VÖZ-Präsident Thomas Kralinger.

VÖZ-Präsident Thomas Kralinger erklärte bei seinen Begrüßungsworten, dass die 360 Grad Panoramaaussicht im obersten Stockwerk des Ringturms „genau jenen Weitblick bietet, den Medienhäuser verlegerischer Herkunft bei ihrer Suche nach neuen Strategien brauchen“.

Kein Medienkannibalismus

Norbert Bolz‘ Vortrag „Der Hass und die Lügen. Über Hate Speech, Fake News und Political Correctness in den Medien“ sorgte für reichlich Diskussionsstoff. Der Professor für Medienwissenschaften an der TU Berlin kritisierte die Political Correctness deutscher Leitmedien. Politische Themen würden nicht mehr politisch diskutiert, sondern in „Gut und Böse“ aufgeteilt. Dieser Moralismus zeige sich auch darin, dass politische Themen ausschließlich aus der Opferperspektive dargestellt würden.

Vor allem für den Begriff „Lückenpresse“, den Bolz im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2016 verwendete, erntete der Medienwissenschaftler Widerspruch – etwa von „profil“-Herausgeber Christian Rainer.

Weniger kontroversiell war Bolz‘ Einschätzung, wonach „Medienmarken die Navigatoren der Zukunft“ seien. Im Wettbewerb der Informationsquellen müssten klassische Medien weiterhin ihre Agenda Setting-Funktion wahrnehmen. Traditionelle und Soziale Medien würden sich nicht kannibalisieren, da sie jeweils über unterschiedliche Stärken verfügen.

Nicht die Plattform, sondern der Inhalt ist entscheidend

Matthew Kaminski, Chefredakteur von „Politico Europe“, demonstrierte, wie man ein Special-Interest-Medium in einem hochkompetativen Umfeld führt. Sein Erfolgsrezept beruhe auf drei Prinzipien: einer klaren Mission, der genauen Kenntnis seines Publikum und der Überzeugung, dass Medien keine Plattformen seien, sondern es einzig und allein um die Inhalte gehe.

„Wir müssen den Menschen Nachrichten liefern, egal wo und wie sie diese konsumieren“, so Kaminski. Mit „Politico Europe“ wollte der Axel Springer Verlag im Jahr 2015 gemeinsam mit dem US-amerikanischen „Politico“ beweisen, dass sich die Erfolgsgeschichte aus Washington auch in Europa wiederholen lässt.

Griechenland, Migration oder Brexit – die Europäische Union sei entgegen gängiger Klischees ganz und gar nicht langweilig. „Wir stillen den enormen Hunger nach Information in der Brüsseler Politblase.“

Das Geschäftsmodell von „Politico Europe“ funktioniert dabei ähnlich wie jenes in den USA. Während es zwar eine frei zugängliche Website und einen kostenlosen Newsletter gibt, setze man vor allem auf Premium-Abonnenten, die mit einer vertieften Berichterstattung zu speziellen Themen versorgt werden. Damit ist „Politico“ ein Gegenentwurf zu vielen anderen Online-Angeboten, die auf Reichweite, Entertainment und Social-Traffic setzen. Neben Brüssel unterhält „Politico“ auch Büros in Berlin, Frankfurt, London und Paris.

„Adblocker sind Türsteher vor Clubs, die ihnen nicht gehören“

Der deutsche Digitalstratege und Medienberater Oliver von Wersch sprach über Adblocker, welche die digitalen Geschäftsmodelle der Verleger untergraben. Werbeblocker führen dazu, dass Webseiten zwischen 15 und 45 Prozent der Reichweite auf Desktop-PCs nicht durch Werbung monetarisieren können.

„Adblocker sind Türsteher vor Clubs, die ihnen nicht gehören“, kritisierte Wersch dieses „moderne Raubrittertum“. Denn der führende Werbeblocker Adblock Plus mache schätzungsweise mehr als 50 Mio. Euro Umsatz, indem er Werbung gegen eine „Bearbeitungsgebühr“ wieder durchlässt.

Von Wersch entwickelte für den deutschen Verlag Gruner + Jahr Strategien gegen Adblocker. Entscheidend sei die Kommunikation mit dem Nutzer. Bei fünf bis sechs Prozent der Adblocker-User reiche ein Appell, den Blocker auszuschalten. Den Nutzer vor die Wahl zu stellen, für das Angebot zu zahlen oder den Adblocker zu deaktivieren, reduziere die Verwendungsrate, wobei die Bezahlmöglichkeit „reine Symbolik“ sei, so Wersch.

Laut von Wersch stünde den Verlegern aktuell eine neue Herausforderung im Kampf gegen Werbeblocker bevor. Denn Google werde wohl 2018 in seinen Internet-Browser Chrome standardmäßig einen Adblocker implementieren.

Zeitgleich zu den Google-Plänen habe sich in den USA die Coalition for Better Ads gebildet, schilderte von Wersch. An Bord: Neben Google und Facebook milliardenschwere Werbekunden wie der Konsumgüterproduzent Procter & Gamble. Von Wersch geht davon aus, dass Google Chrome künftig nur noch dann Werbung ausliefern wird, wenn die Werbeformen auf einer Website dem Standard dieser Brancheninitiative entsprechen. Etwa, dass keine contentüberlagende Werbung angezeigt wird, oder dass der Ton der Werbung automatisch abgespielt wird.

Digitalisierung und Disruption

Stefan Jenzowsky von Siemens Convergence Creators gab Einblick in die disruptiven Ansätze von skalierbaren Geschäftsmodellen. Wobei Jenzowsky klarstellte, dass Disruption in den meisten Fällen ein Synonym für Zerstörung geworden sei. So wolle der Fahrdienstleister Uber die gesamte Taxibranche zerstören und ersetzen.

Mobilität, Gesundheit, Finanzen oder Medien – Jenzowsky ist davon überzeugt, dass „alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert wird“. Die Idee von der technologischen Singularität bestimme das Denken im Silicon Valley. Darunter versteht man den Zeitpunkt, bei dem sich Maschinen mittels künstlicher Intelligenz rasant selbst verbessern und damit den technischen Fortschritt derart beschleunigen, dass die Zukunft der Menschheit nicht mehr vorhersehbar ist.

Diese Zukunftsvision ließe sich laut Jenzowsky nicht mehr aufhalten. Die einzige Gewissheit liege darin, „dass die Vergangenheit auch in Zukunft ein fremdes Land bleibe, in dem andere Regeln gelten.“

Fotos © Katharina Schiffl